Publikationen - «Carte Blanche» Gastbeiträge
Lukas Golder, Co-Leiter gfs.bern
Stabilitätswahlen in Krisenzeiten als Verpflichtung
05.10.2023
Stabilität dürfte das Resultat am Abend des 22. Oktober 2023 am besten zusammenfassen: Auf die Amplitude der grünen Welle und nach einer von Krisen geprägten Legislatur ein Zeichen der Wählerschaft in Richtung Stabilität mit einem leichten Rechtsrutsch. Doch das Abstimmungsverhalten zeigt, dass die Wirtschaft und Politik vor grossen Herausforderungen steht.
Ungefähr die Hälfte der Stimmberechtigten dürfte sich an den kommenden Wahlen beteiligen. Das ist weit hinter dem Durchschnitt der Beteiligung von 57.4 Prozent bei den vier eidgenössischen Urnengängen im Jahr 2021. Regierungskritische Kreise sorgten für diesen Rekordwert seit 1971. Wahlen mobilisieren diese Kreise kaum. Allgemein wird eine Bestätigung der Machtverhältnisse im eidgenössischen Parlament erwartet. Die aktuellen Umfragen zeigen einen leichten Rechtsrutsch mit einer Stärkung der SVP sowie eine geringere Mobilisierung der Grünen mit etwas Vorteilen für die SP im linken Lager. Parallel zu möglichen Sitzverschiebungen im Nationalrat zur SP und zur SVP zulasten der Grünen muss die FDP mit leichten Verlusten im Nationalrat rechnen. Die FDP ist aber eine mögliche Gewinnerin der Ständeratswahl. Die traditionell im Ständerat starke Mitte könnte dank neuem Namen und der Fusion mit der BDP sogar bei den Nationalratswahlen erstmals seit 1979 mehr als ein Promille zulegen. Alles andere als eine Bestätigung der Sitzverteilung im Bundesrat wäre nach einem solchen Wahlresultat eine faustdicke Überraschung. Damit hätte das Parlament bereits am 13. Dezember 2023 das Motto für die weiteren vier Jahre gesetzt: Weiter so!
Wirtschaftspolitischer Perspektivenwechsel
Die Stabilitätswahl verdeckt eine wachsende Veränderung in der wirtschaftspolitischen Wahrnehmung der Schweizer Bevölkerung. Nach Jahrzehnten der Dominanz von Wirtschaftssorgen und der Sorge um Arbeitsplatzsicherheit wie im CS-Sorgenbarometer hat der Fachkräftemangel die Arbeitnehmenden gestärkt und konkreten Alltagssorgen Platz gemacht. Mit dem Homeoffice, den Prämienerhöhungen, den Versorgungsengpässen bei Medizin und Energie, der Sorge um den Krieg, der Inflation und der Beschleunigung im Arbeitsumfeld mit Folgen auf die psychische Gesundheit, sind die Prioritäten krisenbedingt verschoben worden. Die Wirtschaft steht nicht an erster Stelle und kann ihre Bedürfnisse nicht mehr einfach vermitteln. Nach der Klimawahl 2019 geht es also nach der Stabilitätswahl für Unternehmen zunächst darum, die interne Befindlichkeit zu pflegen und für Zuversicht zu sorgen. Aber es sind auch politische Impulse nötig. Konkordanz-Systeme mit Allparteienregierungen mögen zwar etwas langweilig bei Wahlen sein, aber wenn es für zentrale auch wirtschaftspolitische Fragen keine Kompromiss-Lösungen gefunden werden, wird aus Langeweile Stillstand. Dafür gibt es durchaus Anzeichen. Wenn in Zeiten der Polarisierung selbst das rechte Lager, die Wirtschaftsverbände und die Sozialpartner in zentralen Fragen nicht einig ist, wird die konkordante Lösungsfindung für den Bundesrat und das Parlament natürlich schwer.
Pharma und Life Sciences: Stabilität heisst Verunsicherung
Die Stabilitätswahl ist auch für die innovativen Wirtschaftszweige eher ein Grund für Verunsicherung. In wichtigen Dossiers mit der EU gibt es Anpassungsbedarf. Die Verbände und die Unternehmen mögen zwar flexibel reagieren, aber strategische Verunsicherungen bei Unternehmen bei der Energieversorgung, den Zulassungsbestimmungen und auf dem Arbeitsmarkt wirken sich stark auf die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts aus. Es ist den Wirtschaftsverbänden und den Bauern gelungen, eine gemeinsame Wahlkampagne auf die Beine zu stellen. Auf Fragen der globalen Verantwortung und der europäischen Vernetzung ist die gemeinsame Antwort aber nicht erkennbar. Wer sich wünscht, dass Wirtschaftsanliegen für die wertschöpfungsstarke Branche auch in Zukunft Gehör finden, hat in der Schweiz alle Türen offen: Die direkte Demokratie verschafft allen Anliegen Gehör und auf Stufe der Gemeinden werden händeringend verantwortungsbewusste Personen gesucht, die unsere Milizkultur stärken. Wer etwas ändern will, darf also anpacken.