Publikationen - Positionspapiere
Versorgungssicherheit von Arzneimitteln
28.03.2024
Weltweit haben Medikamentenengpässe zugenommen, die Schweiz ist hier keine Ausnahme. Im 2022 sind bei der Meldestelle Heilmittel beim Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) rund 200 Meldungen von Versorgungsstörungen eingegangen: insgesamt waren ca. 1'000 Medikamente zeitweise nicht verfügbar. Betroffen waren primär Arzneimittel der Grundversorgung, doch ist vermehrt auch ein verknappter Zugang bei innovativen Medikamenten zu befürchten.
Tiefpreisdiktat hat Konsequenzen
Die Herausforderungen eines kleinen Marktes wie der Schweiz in Kombination mit dem grossen Kostendruck gefährden die Diversifizierung und somit die Versorgungssicherheit. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) legt die Arzneimittelpreise für kassenpflichtige Medikamente in der Schweiz fest und überprüft diese alle drei Jahre. Hier liegt ein Ursprung des Problems der Versorgungsengpässe: das BAG hat viele Preise in den letzten Jahren so stark gesenkt, dass die Tagesdosis einzelner Produkte auf Basis des Fabrikabgabepreises heute nur noch einige Rappen kostet und teilweise unter die Herstellkosten gefallen ist. Dieser Preisdruck zwingt die Industrie zu Optimierungen in der Herstellungskette oder zum Marktrückzug gewisser Produkte. So wurde die Anzahl an Produktionsstätten reduziert und ins ferne Ausland verlagert. Die dortigen Produktionsanlagen werden maximal ausgelastet, was wiederum zu einer starken Konsolidierung und zu einer Verdrängung von Anbietern aus dem Markt geführt hat. Die Konsequenzen sind eine teilweise Monopolisierung des Angebots, damit einhergehende Abhängigkeiten sowie Rückzüge von Arzneimitteln aus dem Markt und entsprechend vulnerable Lieferketten. Unvorhersehbare externe Faktoren können in solchen Systemen bereits zu Lieferabbrüchen führen, wie beispielsweise eine Pandemie mit staatlichen Massnahmen wie Exportstopps, eine plötzlich steigende Nachfrage aufgrund einer veränderten epidemiologischen Situation, politische Verwerfungen oder Naturereignisse mit Lieferausfällen von Roh- resp. Ausgangsstoffen.
Massnahmen zur Versorgungssicherung: Meldesystem und Pflichtlager
Die Meldestelle für lebenswichtige Humanarzneimittel regelt die Sicherstellung der Versorgung des Landes mit lebenswichtigen Humanarzneimitteln, sprich von zugelassenen Arzneimitteln, die nicht oder nur eingeschränkt ersetzbar sind und deren Fehlen über längere Zeit gravierende gesundheitliche Folgen hätte. Das BWL beurteilt anhand einer definierten Risikomatrix regelmässig, welche Wirkstoffe melde- und allenfalls gar lagerpflichtig sind. Entsprechend wurde die Liste der Melde- und Lagerpflicht Anfang 2024 erweitert. Die Meldepflicht soll helfen, allfällige Engpässe frühzeitig zu erkennen und Massnahmen zu definieren, damit diese abgemindert werden können. Ziel müsste es indes sein, dass es zu möglichst wenigen Meldungen kommt. Die aktuelle Entwicklung geht leider aus den hier genannten Gründen in die umgekehrte Richtung. Auch muss der laufende Ausbau der Meldepflicht mit einem durch den Bund finanzierten automatisierten Meldesystem einhergehen.
Im Rahmen des Pflichtlagersystems halten die Unternehmen vom Bund vorgeschriebene Vorräte. Bei den Medikamenten können die mit dieser Lagerhaltung einhergehenden Kosten nicht überwälzt werden, weil hier im Gegensatz zu anderen Produkten die Preise staatlich reguliert sind. Die Kosten dieser Pufferlager trägt momentan vollumfänglich die Pharmaindustrie, was zu einer Verschärfung des Problems führt. Diese spricht sich für ein risikobasiertes Meldesystem und massvolle Pflichtlager zur Stärkung der Versorgungssicherheit entlang der gesamten Vertriebskette (Grossisten, Apotheken, Spitäler, Ärzteschaft und Patient) aus. Jedoch muss die Kostentragung reformiert werden: Die Pflichtlagerfinanzierung ist vergleichbar mit anderen Produktkategorien anzupassen und der Bund übernimmt die Kosten für die Pflichtlagerhaltung.
Attraktiver Produktionsstandort Schweiz
Die Schweiz ist grundsätzlich ein attraktiver Produktionsstandort für pharmazeutische Produkte, was stabilisierend auf die eigene Versorgung wirkt. Der Zugang zu internationalen Lieferketten und der direkte Austausch ermöglichen eine enge Zusammenarbeit, das hat sich besonders in der COVID-Pandemie bestätigt. Aufgrund der hohen Gestehungskosten gilt diese Aussage aber primär für die innovativen Arzneimittel. Eine Eigenversorgung der Schweiz mit sämtlichen Arzneimitteln ist hingegen illusorisch. Dafür ist der Markt viel zu klein, um wirtschaftlich arbeiten zu können und zudem bleibt die Schweiz stets vom Import von Ausgangsstoffen und Verpackungsmaterialien abhängig. Die Produktionsketten werden auch in Zukunft international bleiben, doch bestehen Möglichkeiten, die Abhängigkeit vom fernen Ausland zu reduzieren, bspw. in einem europäischen Verbund. Dazu bedarf es guter Rahmenbedingungen für die Produktion, wie ein ausgewogenes Chemikalienrecht, eine stabile Energieversorgung, ein gesicherter Zugang zu Fachkräften oder einfache Exportmöglichkeiten. Auch sind die gegenseitige Anerkennung von Produktionsstandards über Mutual Recognition Agreements (MRA) sowie staatsvertragliche abgesicherte Lieferketten von Bedeutung. Die Schweiz ist hierin noch gut aufgestellt und insbesondere im Bereich der innovativen Arzneimittel im europäischen Vergleich ein bedeutender Produktionsstandort. Damit dieser starke Standort erhalten bleibt, gilt es nicht zuletzt im Sinne der Versorgungssicherheit die attraktiven Produktionsbedingungen zu sichern resp. zu stärken.
Starker Forschungs- und Entwicklungsstandort
Eine vielfältige Produktepalette sichert die Versorgung besser, denn die Abhängigkeit von wenigen Anbietern nimmt dadurch ab. In den vergangenen Jahren kam es in der Schweiz indes bei vielen Wirkstoffen zu einer Ausdünnung des Angebots, weil mitunter auch Investitionen in Weiterentwicklungen von bewährten Therapien aufgrund der sich laufend verschlechternden Rahmenbedingungen erschwert wurden. Ein breiteres Angebot würde die Versorgung stabilisieren und zudem einen Mehrwert für die Bevölkerung generieren bspw. durch die vereinfachte oder wirkungsoptimierte Einnahme eines Medikaments (z.B. Pen vs. Infusion). Aber auch im Bereich der innovativen Arzneimittel ist ein stringenter Schutz des geistigen Eigentums sowie eine faire Honorierung der Forschungsanstrengungen zentral, damit diese den Weg in den Schweizer Markt finden. Es muss hierzulande das Ziel sein, der Bevölkerung Zugang zu einer grösstmöglichen Vielfalt an Therapieoptionen mit Originalen und Nachahmerprodukten bieten zu können. Ein starker Forschungs- und Entwicklungsstandort mit hohem Schutz des geistigen Eigentums sowie ein starker Produktionsstandort sind hierfür die beste Krisenvorsorge.
Rascher Zugang zu Innovation stärkt die Versorgung
Noch gibt es keine Versorgungsengpässe bei den zugelassenen innovativen Medikamenten, indes verzögert sich der Zugang zu neuen Therapien seit einiger Zeit. Diese Entwicklung stellt eine zeitnahe Versorgung der Schweizer Patientinnen und Patienten mit Innovationen zusehend in Frage, was den allgemeinen Druck auf die Versorgung nicht lindert. Durch attraktive Vergütungsregeln würde der frühe Zugang zu innovativen Arzneimitteln gefördert, wobei eine einseitige Preisfokussierung in der Gesundheitspolitik die Versorgung verschlechtert. Eine mögliche Lösung für einen schnelleren Zugang bietet sich mit einem rückvergüteten Innovationszugang (RIZ), der zurzeit im Parlament behandelt wird. Dabei legt das BAG einen dem Auslandpreisvergleich (APV) entsprechenden vorläufigen Preis für ein Medikament ab dem Tag von dessen Zulassung durch Swissmedic fest, zu welchem dieses dann vorläufig erstattet wird. Das BAG erhält so Zeit, um später einen definitiven Preis zu verfügen. Die Preisdifferenz zwischen dem vorläufigen und dem definitiven Preis wird schliesslich von der Herstellerfirma zurückerstattet. Mit diesem Modell können die Patientinnen und Patienten einen schnellen und gleichberechtigten Zugang zu neuen Therapien erhalten, während dem BAG und den Pharmaunternehmen mehr Zeit für die komplexen Preisverhandlungen bleibt.
Zeiteinsparungen würden aber auch parallele oder mindestens besser koordinierte Verfahren bei der Zulassung durch Swissmedic und dem BAG durch den "Early Access"-Prozess bringen. Ein früher Dialog zwischen Pharmaunternehmen, Swissmedic und dem BAG führt zu einer stärkeren Parallelisierung der Prozesse.
Lösungsvorschläge
Um die aktuelle Lage zu meistern und zukünftig die Versorgung zu sichern, bedarf es langfristiger Lösungen:
- Versorgungskritische Produkte sollen aus der dreijährlichen Überprüfung ausgeklammert werden.
- Investitionen in Weiterentwicklungen sind in der Preisfindung zu honorieren und die Entscheide der Swissmedic sind durch das BAG zu übernehmen.
- Es soll ein Prozess zur Preiserhöhung aus wirtschaftlichen Gründen ermöglicht werden, vor allem bei besonders versorgungskritischen Arzneimitteln.
- Innovationen sollen schnell und unbürokratisch ab dem ersten Tag nach Zulassung vergütet werden. Rückerstattungsmechanismen verhindern eine allfällig übermässige Belastung der Grundversicherung.
- Preise von Arzneimitteln mit Pflichtlagerhaltung sollen nicht weiter gesenkt werden und nicht dem differenzierten Selbstbehalt unterliegen.
- Laufender Ausbau der Meldepflicht muss mit einem durch den Bund finanzierten automatisierten Meldesystem einhergehen.
- Der Bund muss die mit dem Pflichtlager verbundenen Kosten übernehmen.
- Es sollen Vorgaben für Pufferlager entlang der gesamten Vertriebskette (Grossisten, Apotheken, Spitäler, Ärzteschaft) eingeführt werden.
- Für eine langfristige Versorgungssicherheit sollen internationale Vereinbarungen geprüft werden, damit die Schweiz bei multinationalen Massnahmen zur Arzneimittelversorgung eingebunden ist.
- Gute Rahmenbedingungen für eine attraktive Produktion in der Schweiz müssen abgesichert werden.
- Ein umfassender Schutz des geistigen Eigentums muss gewährleistet bleiben.
- Es gilt im Bereich neuer Antibiotika international abgestimmte Vergütungsmodelle einzuführen.