Dossiers - Beziehungen zur EU
Übersicht und Position zu den Beziehungen zur EU
15.02.2024
Die Industrien Chemie Pharma Life Sciences haben aufgrund der engen wirtschaftlichen Verflechtung ein vitales Interesse an der Bewahrung der bilateralen Abkommen mit der EU. Aus der Perspektive der forschungsintensiven, exportabhängigen chemisch-pharmazeutischen Industrie sind die bilateralen Abkommen mit der EU ein wichtiger Standortfaktor ohne Aussicht auf eine gleichwertige Alternative.
Der EU-Binnenmarkt stellt seit seinem 30-jährigen Bestehen den bedeutendsten ausländischen Markt für die Schweizer Wirtschaft dar. Ein freier Zugang ist vor allem für Chemie Pharma Life Sciences überlebenswichtig. Hierfür müssen langfristig tragfähige Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU gewährleistet sein. Denn bei einer voranschreitenden Erosion der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU drohen neue Handelshemmnisse.
Bedeutung der EU für die Schweizer Exportwirtschaft
Die Schweiz ist primär eine Exportnation, deren Wirtschaft stark auf den internationalen Handel ausgerichtet ist. Mit einem Anteil von über 49 Prozent der gesamten schweizerischen Exportleistungen sind die Industrien Chemie Pharma Life Sciences der Exportmeister der Schweiz. Auch ihr wichtigster Absatzmarkt ist der EU-Binnenmarkt mit einem Anteil von 50 Prozent, während importseitig mit 75 Prozent der Löwenanteil der eingeführten chemisch-pharmazeutischen Produkte aus der EU stammt.
Als nicht-Mitglied der EU regelt die Schweiz den Zugang zum EU-Binnenmarkt über unterschiedliche bilaterale Abkommen, um durch Beseitigung von Handelshemmnissen binnenmarktähnliche Verhältnisse zu schaffen. Im Jahr 1992 lehnte das Schweizer Stimmvolk einen Beitritt zum EWR ab, womit der Weg der bilateralen sektoriellen Abkommen eingegangen werden musste. Mit den Bilateralen I (1999) und den Bilateralen II (2004) wurde ein weitgehender gegenseitiger Marktzugang garantiert und Diskriminierungen von Schweizer Unternehmen und deren Produkten auf dem EU-Binnenmarkt wurden entfernt.
Abbau technischer Handelshemmnisse
Das Abkommen über den Abbau technischer Handelshemmnisse zwischen der Schweiz und der EU (Bestandteil der Bilateralen I) ist für den Chemie- und Pharma-Standort Schweiz essenziell. Mit dem Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (engl.: Mutual Recognition Agreement, kurz: MRA) werden die Marktzutrittsbedingungen in den EU-Markt erleichtert und Diskriminierungen auf Schweizer Produkte eliminiert. Für Schweizer Unternehmen senkt dies zusätzlich Kosten sowie den administrativen Aufwand – bei Chemie und Pharma aufgrund von Inspektionsanerkennungen.
Beim Import aus der EU sind praktisch alle Kapitel und beim Export insbesondere folgende Kapitel im ersten Anhang des Abkommens von Bedeutung:
- 4 (Medizinprodukte): Die Rechtsunsicherheit im Zusammenhang mit den Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU (InstA) stellt die Medizintechnikindustrie vor die zeitlich dringende Frage, ob das Mutual Recognition Agreement (MRA) nachgeführt sein wird.
- 14 (Good Laboratory Practice GLP - gegenseitige Anerkennung der GLP-Überwachung): Basiert auf den OECD-Guidelines.
- 15 (Good Manufactoring Practice GMP - Zertifizierung von Chargen, gegenseitige Anerkennung der GMP-Kontrollen): Das Abkommen erlaubt es insbesondere, die Chargenfreigabe durch eine qualifizierte Person entweder in der EU oder in der Schweiz vorzunehmen, da die entsprechenden Dokumente gegenseitig anerkannt werden. Überdies werden die Ergebnisse der GMP-Kontrollen gegenseitig anerkannt, sodass keine Duplizierung der Kontrollen nötig ist.
- 16 (Bauprodukte)
- 18 (Biozid-Produkte)
- 20 (Explosivstoffe für zivile Zwecke).
Ein Wegfallen des Abkommens über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen (MRA) oder nur schon ein Einfrieren dieses Abkommens würde einen erheblichen Mehraufwand für Schweizer Unternehmen nach sich ziehen. Für die chemisch-pharmazeutische Industrie entstünden zusätzliche Kosten für die Zertifizierung von Anlagen und Produktchargen. Die Kosten dieser Duplizierung werden auf rund CHF 500 Millionen pro Jahr geschätzt. Mit Anpassungen von MRA-Richtlinien seitens der EU und der Weigerung, das MRA-Abkommen zu aktualisieren, wird der Marktzugang von Schweizer Unternehmen markant erschwert. Die Medtech-Branche hat bereits entsprechende Erfahrungen machen müssen.
Forschungszusammenarbeit
Doch nicht nur als Absatz- und Fachkräftemarkt ist die EU für die Schweiz von hoher Bedeutung, auch im Bereich der Forschung ist der Schweizer Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort auf die europäische Zusammenarbeit angewiesen. Das Forschungsprogramm Horizon Europe ist das weltweit grösste Forschungs- und Innovationsförderprogramm. Schweizer Forschende gehörten bislang bei den jährlich vergebenen, renommierten ERC Starting Grants zu den Spitzenreitern.
Mit dem Abbruch der Verhandlungen wurde die Schweiz beim Forschungsprogramm Horizon Europe zudem zum Drittstatt heruntergestuft. Die fehlende vollständige Assoziierung an Horizon Europe schadet der Forschung und Innovation und somit letztlich der Schweizer Innovationskraft. Für die Schweiz ist es schwieriger geworden, Spitzenforschende zu akquirieren. Denn diese können beispielsweise keine Projektführung im Rahmen von Horizon Europe übernehmen oder Awards samt Fördergelder bei den ERC-Grants beziehen.
Für Mitgliedsunternehmen von scienceindustries sind die Programmpunkte von «Horizon Europe» eine sehr relevante Quelle bei der Erarbeitung neuer Technologien sowie bei der Entwicklung neuer Produkte und neuer Anwendungen für bestehende Produkte. Darüber hinaus sind sie wichtig für den Zugang zu den wissenschaftlichen Netzwerken. Aufgrund der Komplexität der Wissenschaft werden grosse Entwicklungen und Innovationen von führenden Forschungsinstituten und Unternehmen in der Regel in internationalen Netzwerken erarbeitet.
Personenfreizügigkeit
Die chemisch-pharmazeutische Industrie der Schweiz ist mit rund 40 Prozent Anteil an den privaten Investitionen in Forschung und Entwicklung überaus forschungsintensiv und innovationsstark. In Anbetracht des Fachkräftemangels in den MINT-Bereichen sind diese Industrien umso mehr auf hoch qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen. Die Standortqualität und das Wachstumspotenzial sind davon abhängig.
Gemäss der Strukturerhebung des BFS haben von den in der Schweiz wohnhaften Erwerbstätigen mit Hochschulabschluss in der Pharmaindustrie 65% eine ausländische Nationalität. Auch in der Chemieindustrie hat mehr als jeder zweite Erwerbstätige mit Hochschulabschluss einen ausländischen Pass. In der Gesamtwirtschaft liegt der entsprechende Anteil mit 33% wesentlich tiefer. Ein ähnliches Bild ergibt sich im Bereich Forschung und Entwicklung. Dort liegt der Ausländeranteil bei den Forschenden in der Pharmaindustrie bei sehr hohen 70%.
Die Personenfreizügigkeit hat einerseits die Qualifikation der Zuwanderer deutlich erhöht, andererseits aber nicht zu einer Verdrängung der hiesigen Arbeitskräfte geführt. Ein Kollaps der Personenfreizügigkeit würde den bereits vorherrschenden Fachkräftemangel im Land aggravieren und den Forschungs- und Innovationsbereich einschneidend treffen.
Luftverkehrsabkommen
Zahlreiche Mitgliedsunternehmen versenden mehr als 50 % ihrer Frachtsendungen auf dem Luftweg und sind auf gute Luftverkehrsverbindungen ab der Schweiz angewiesen. Im Bereich Luftfrachtsicherheit ist in der Schweiz das «Known Consignor» des BAZL in Kraft, welches der EU-Verordnung 300/2008 und der Richtlinie EU/185/2010 entspricht.
Bei einem Wegfall des Abkommens ist mit der Nicht-Weiteranerkennung dieses „Bekannter Versender-Verfahrens“ der Schweiz zu rechnen, was zusätzliche Sicherheitschecks beim Umladen in EU-Flughäfen vor dem Weiterverlad nach Übersee nötig machen und die Sicherheitskosten für jede Luftfrachtsendung erhöhen würde sowie Verzögerungen zur Folge hätte. Zudem könnten die USA das «Regulated Agent-Concept» der TSA (Transportation Security Administration) nicht mehr anwenden, da dieses auf der Zusammenarbeit EU/CH basiert. Damit würden sich die Kosten für Flugfrachtsendungen in die USA erhöhen.
Stromabkommen
Ein Stromabkommen zwischen der Schweiz und der EU ist von entscheidender Bedeutung für die Schweizer Industrien Chemie Pharma Life Sciences, insbesondere vor dem Hintergrund der Wintererfahrungen seit der Energiekrise mit dem Beginn des Ukrainekriegs. Die enge Verflechtung der Strommärkte und -infrastruktur mit den Nachbarstaaten, insbesondere im europäischen Raum, sichert nicht nur die Umsetzung der Schweizer Energiepolitikziele, sondern gewährleistet auch eine sichere Stromversorgung im Land.
Die Schweiz strebt eine sichere, wirtschaftliche und umweltverträgliche Stromversorgung an und sieht die Einbindung in den europäischen Strommarkt als entscheidenden Beitrag dazu. Ohne ein Stromabkommen mit der EU würde die Teilnahme der Schweiz am europäischen Strombinnenmarkt erschwert. Ein solches Abkommen würde nicht nur die Integration erneuerbarer Energieträger fördern, sondern auch der flexiblen Wasserkraft neue Perspektiven eröffnen, und somit die langfristige Position der Schweiz im europäischen Strommarkt stärken.
Langfristig tragfähige Beziehungen notwendig
In den Beziehungen zur EU sind barrierefreier Marktzugang, angemessene Personenfreizügigkeit, eine vollständige Assoziierung an europäische Forschungsabkommen sowie Strom- und Luftverkehrsabkommen zentral für den Wirtschaftsstandort Schweiz. Für die chemisch-pharmazeutische Industrie ist ein rasches Handeln zentral, denn ohne geregeltes Verhältnis mit der EU droht der bilaterale Weg weiter zu erodieren – mit nachhaltig negativen Auswirkungen für die Schweizer Wirtschaft und Gesellschaft.