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Optimale Rahmenbedingungen statt aktive Industriepolitik
scienceindustries ist engagiert für einen innovativen und nachhaltigen Forschungs- und Produktionsstandort Schweiz. Der Wirtschaftsverband Chemie Pharma Life Sciences orientiert seine Aktivitäten gemeinsam mit seinen Mitgliedsunternehmen entlang einer Nachhaltigkeitsstrategie mit sechs Schwerpunktthemen.
12.07.2024
Industriepolitik ist weltweit auf dem Vormarsch. Es stellt sich die Frage, wie sich die Schweiz als kleine offene Volkswirtschaft diesbezüglich positionieren soll. Die Schweizer Industrien Chemie Pharma Life Sciences spielen eine bedeutende Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung und Innovationskraft der Schweiz. Entsprechend stellt sich diese Frage hier ganz ausgeprägt. Aus Sicht von scienceindustries soll deren internationale Wettbewerbsfähigkeit nicht mit staatlich gelenkter Industriepolitik, sondern durch optimale Rahmenbedingungen gestärkt werden.
Seit es Industrie gibt, gibt es Industriepolitik. Staaten haben immer wieder versucht, mit staatlichen Fördermassnahmen Schlüsselindustrien und -technologien zu fördern. Während in den 1980er und 1990er-Jahren der Glaube an den freien Markt und eine begrenzte(re) Rolle des Staates vorherrschte, hat sich in den letzten Jahren ein Wandel wirtschaftspolitischer Praktiken vollzogen. Dies hat sich insbesondere im Kontext der Verschärfung der Beziehungen zwischen den globalen Mächten akzentuiert. Gross- und Regionalmächte nutzen vermehrt industriepolitische Instrumentarien als Mittel langfristig ausgelegter nationaler Machtpolitik. Vor diesem Hintergrund sind auch aktuelle industriepolitische Vorhaben von Staaten zu verstehen, die darauf abzielen, die Vorherrschaft über (vermeintliche) zukünftige Schlüsselindustrien innezuhaben, um so wiederum die eigene Stellung in der globalen Machtkonstellation zu stärken.
So wird die chinesische Solarbranche subventioniert, um ihre Ware in Europa unter den Herstellkosten anbieten zu können. Doch auch im Westen erstarken vermehrt industriepolitische Tendenzen. Die USA haben 2022 das "Inflation Reduction Act" (IRA) verabschiedet, das hohe Subventionen für die Industrie zur Förderung von Elektrofahrzeugen, Batterien und erneuerbaren Energien vorsieht. Als Reaktion kündigte die EU einen "Industrieplan" an, der eine Lockerung der EU-Regeln für Staatsbeihilfen sowie einen Subventionstopf von 270 Milliarden Euro für "grüne" Projekte vorsieht. Auch in der Schweiz behandelte das Parlament unterschiedliche industriepolitische Begehren wie beispielsweise Massnahmenpakete für die Stahl- und Aluminiumindustrie.
Was umfasst Industriepolitik?
Eine eindeutige Eingrenzung des Begriffs Industriepolitik lässt sich nur schwer vornehmen, zumal jede staatliche Tätigkeit, jede Regulierung, jedes staatliche Anreizsystem und jede — insbesondere auch finanzielle — Fördermassnahme Auswirkungen auf Industrien haben kann. All dies kann als implizite oder passive Industriepolitik angesehen werden. Nicht zuletzt fallen dem Staat unweigerlich gewisse Aufgaben zu, so beispielsweise im Sicherheits-, Infrastruktur- oder Bildungsbereich — idealerweise mit dem Ziel, optimale Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Tätigkeit und unternehmerisches Wirken zu gewährleisten.
Eine aktive Industriepolitik jedoch geht weit darüber hinaus und umfasst staatliche Eingriffe in die wirtschaftliche Tätigkeit und in die Unternehmensentscheide sowie Lenkungsinstrumente wie Subventionen oder andere Fördermittel, die den Staatshaushalt belasten, die Wirtschaftsstruktur verzerren und unternehmerische Entscheide dem Staat übertragen. Dies kann so weit gehen, dass der Staat "Schlüsselindustrien" definiert und diese gezielt fördert. Eine derartige Rolle des Staates entspricht weder dem marktwirtschaftlichen Verständnis, noch ist sie in der wirtschaftspolitischen Tradition der Schweiz verankert.
Markt statt Staat
Für eine kleine offene Volkswirtschaft wie die Schweiz überwiegen die Nachteile und Risiken von Industriepolitik allfällige Vorteile noch stärker als dies ohnehin der Fall ist. Zu den Risiken und Nachteilen gehören finanzielle Belastungen für die Steuerzahler, Marktverzerrungen, staatliche Einmischung in unternehmerische Entscheidungen, Innovationshemmungen, Handelskonflikte und die Gefahr kostspieliger Subventionswettläufe, welche sich die Schweiz auf internationalem Parkett nicht leisten kann.
Wenn bestimmte Unternehmen oder Branchen durch Subventionen oder andere Massnahmen bevorzugt werden, kann dies den Wettbewerb beeinträchtigen und zu einer ineffizienten Ressourcenallokation führen. Dies birgt die Gefahr, dass Unternehmen von staatlicher Unterstützung abhängig werden und ihre Wettbewerbsfähigkeit aufgrund ineffizienter Geschäftspraktiken nachlässt. Folglich sollte die Schweiz sich fernhalten von industriepolitischen Massnahmen und vom internationalen Subventionswettlauf. Stattdessen ist auf das bewährte Erfolgsrezept marktorientierter Lösungen zu setzen.
Internationaler Marktzugang mit gleich langen Spiessen
Industriepolitische Massnahmen stehen auch ordnungspolitisch dem offenen Welthandel entgegen. Dies trifft die Schweiz entscheidend, denn das Land verfügt über einen relativ kleinen Binnenmarkt und zeichnet sich in erster Linie als Exportnation aus. Sie gehört zu den Ländern mit den höchsten Anteilen des Aussenhandels am Bruttoinlandprodukts. Über die letzten Jahre betrugen die jährlichen Handelsüberschüsse rund 40 Milliarden Franken. Mit einem Anteil von über 49 Prozent der gesamten schweizerischen Exportleistungen im Jahr 2023 sind die Industrien Chemie Pharma Life Sciences der Exportmeister der Schweiz. Im Jahr 2000 noch mit rund 30 Prozent, tragen Chemie Pharma Life Sciences seit 2016 mindestens 45 Prozent an den Schweizer Gesamtexporten bei. Weit über 90 Prozent der Umsätze dieser Industrien werden im Ausland erzielt; rund 50 Prozent davon allein im EU-Markt.
Diese Voraussetzungen bedingen einen barrierefreien globalen Markzugang zu den wichtigsten Absatzmärkten, unter Gewährleistung eines fairen und regelbasierten Wettbewerbs auf internationaler Ebene. Primär ist die Stärkung multilateraler Mechanismen wie der WTO hierfür zentral. Zusätzlich aber ist der Marktzugang mittels Ausbaus und Modernisierung des Netzes an Freihandelsabkommen und anderer bilateraler Abkommen (wie z.B. im Bereich der gegenseitigen Anerkennung von Konformitätserklärungen (sog. Mutual Recognition Agreements, MRA)) mit Partnerländern zu gewährleisten.
Optimale Rahmenbedingungen zugunsten internationaler Wettbewerbsfähigkeit
Ein barrierefreier Marktzugang kann nur von Nutzen sein, wenn man sich im internationalen Wettbewerb auch behaupten kann. Voraussetzung hierfür ist, dass die exportorientierten Industrien Chemie Pharma Life Sciences ihre bislang ausgezeichnete internationale Wettbewerbsfähigkeit wahren und ausbauen. Diese Stärke gründet auf adäquate Rahmenbedingungen, welche die Schweiz als Innovations-, Produktions- und Unternehmensstandort auf lange Frist hin international führend platzieren.
Statt einer expansiven Industriepolitik plädieren die Industrien Chemie Pharma Life Sciences entlang ihrer vier Säulen der Wettbewerbsfähigkeit (siehe Graphik unten) für die Stärkung der Standortqualität und die Pflege guter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Diese umfassen einen forschungsfreundlichen Standort, einen attraktiven Binnenmarkt, einen wettbewerbsfreundlichen Produktions- und Unternehmensstandort sowie einen weltweiten Markzugang.
Vier Säulen der Wettbewerbsfähigkeit für die Industrien Chemie Pharma Life Science
Neben grundlegenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen entlang der vier Säulen der Wettbewerbsfähigkeit spielen folgende Aspekte eine besondere Bedeutung für die forschungsstarken Industrien Chemie Pharma Life Sciences:
- Smarte Regulierung: Unternehmen richten sich nach den Bedürfnissen von Kunden und Geschäftspartnern. Eine Ausrichtung nach gesellschaftlichen Herausforderungen und Trends ist somit inhärent, um erfolgreich zu wirtschaften. Regulierungen sollten als zukunftsgerichtete Anreizsysteme dienen. Regulatorische Hürden bspw. im Bereich der Zulassung von neuartigen Arzneimitteln, Digitalisierung im Gesundheitswesen oder innovativen Methoden in der Biotechnologie müssen abgebaut werden, um eine internationale Wettbewerbsfähigkeit gewährleisten zu können. Die exportorientierten Industrien sind zudem auf eine adäquate, angemessene und zielführende Kongruenz mit dem Ausland zugunsten des barrierefreien Marktzugangs und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit angewiesen. Dies bedingt jedoch zugleich einen zurückhaltenden Nachvollzug unternehmenshemmender ausländischer Regulierungen (bspw. Regulierungen der EU im Bereich Chemikalienhandel, CSR/ESG, Grenzausgleichsmassnahmen CBAM) sowie die Unterlassung eines überschiessenden "Swiss Finish".
- Gezielte Förderung im BFI-Bereich: Die forschungsintensiven Industrien Chemie Pharma Life Sciences leben von der Förderung von Bildung, Forschung und Innovation (BFI), zumal ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit massgeblich von ihrer Innovationskraft abhängt. Die Schweizer Industrien Chemie Pharma Life Sciences stellen rund 40 Prozent der privaten Forschungs- und Entwicklungsausgaben (CHF 6,7 Mrd. im Jahr 2021). Mehr als ein Drittel dieser Investitionen fliesst in die Biotechnologie. Diese beträchtlichen Investitionen sind wirtschaftlich nur gerechtfertigt in einem Umfeld, das einen weltweit diskriminierungsfreien Marktzugang sowie einen starken und durchsetzbaren Schutz des geistigen Eigentums gewährleistet.
Eine starke Beteiligung entfaltet der Schweizer Staat im Bereich Bildung, Forschung und Innovation, durch direkte finanzielle Mittelausschüttung in diesem Bereich. In Anbetracht eines zunehmend engen finanziellen Rahmens bei der Mittelzuweisung ist eine Schwerpunktsetzung auf die kompetitive Forschung notwendig, welche die Wirtschaft nicht substituiert, sondern adäquat ergänzt, so beispielsweise durch Förderung von Grundlagenforschung. Sinnvoll sind auch zielgerichtete Anreize zugunsten von F&E im Rahmen der Umsetzung der OECD-Steuerreform. Neben der bereits umgesetzten Patentbox ist auch eine direkte Förderung von F&E denkbar, z.B. über entsprechende Steuergutschriften.
Zudem versorgt eine zielgerichtete Förderung von Bildung entlang von Marktbedürfnissen die Wirtschaft mit den benötigten qualifizierten Fachkräften – dies im Kontext von Fachkräftemangel insbesondere im MINT-Bereich. Grundlegend ist das Verständnis und die Akzeptanz bei Gesellschaft und Politik für forschungsfreundliche Rahmenbedingungen im Bereich Chemie Pharma Life Sciences zu stärken.
Fazit: Optimale Rahmenbedingungen statt aktive Industriepolitik
Industriepolitik, wie sie derzeit international Aufwind erfährt, birgt Nachteile und Risiken und führt oft zu ineffizienten Ergebnissen. Auf globaler Ebene leiden in erster Linie kleine offene Volkswirtschaften wie die Schweiz darunter, die auf den freien Handel angewiesen sind. Folglich muss die Schweiz sich einerseits für den barriere- und diskriminierungsfreien Marktzugang ohne wettbewerbsverzerrende Massnahmen auf internationaler Ebene stark machen. Zugleich müssen auf nationaler Ebene wiederum adäquate Rahmenbedingungen zugunsten der internationalen Wettbewerbsfähigkeit exportorientierter Industrien gewährleistet werden.
Anstelle marktverzerrender und teurer industriepolitischer Massnahmen soll eine nachhaltige und zukunftsorientierte nationale Wirtschaftspolitik darauf abzielen, die Stärken und Potenziale der Schweizer Schlüsselindustrien Chemie Pharma Life Sciences zu nutzen, um eine langfristige und nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz zu fördern. Dies wird anhand unternehmens- und forschungsfreundlicher Rahmenbedingungen gewährleistet, sodass Schweizer Unternehmen sich darin entfalten und sich im internationalen Wettbewerb behaupten können. So bleibt der Standort Schweiz auch in Zukunft attraktiv für exportorientierte und innovationsreiche Unternehmen aus Chemie Pharma Life Sciences. Für den Bund und die politischen Entscheidungsträger bietet sich an, in einer nationalen Strategie festzulegen, wie sich die Schweiz als Life-Sciences-Standort langfristig international wettbewerbsfähig erweisen kann.